Machtgefälle und sexuelle Belästigung: Mein Weg durch ein toxisches Berufssystem
Eine persönliche Geschichte über Grenzverletzungen und den Weg zur Selbstbestimmung
“Er legte seine Hand auf meinen Oberschenkel und sagte: ‘Remote mag ich nicht so, ich find es besser wenn du direkt neben mir arbeitest…'”
Mein Körper versteifte sich. Der Schauer, der mir über den Rücken lief, mischte sich mit dem Gefühl aus Zorn, wieder in der Situation zu sein, wo ich weiß: Den Auftrag kann ich nicht annehmen, ohne mich sexueller Belästigung auszusetzen. Als Freelancerin mit 21 Jahren, am Anfang meiner Karriere, war ich finanziell auf jede Möglichkeit angewiesen, um Aufträge zu bekommen. Und leider war dies kein Einzelfall.
Der Beginn eines Musters
Wenn ich zurückblicke, hat alles schon in meiner Lehrzeit begonnen. Mit 15 Jahren, eine der Jüngsten in der Berufsschulklasse, war ich besonders verletzlich. Mediendesign war damals ein neuer Lehrberuf mit vielen Quereinsteiger, einige deutlich älter als ich.
Ein Kollege Anfang 30 sollte mir während eines Krankenstandes Unterlagen für eine Gruppenarbeit bringen. Als ich zum Haupteingang meines Wohnblocks kam, presste er mich gegen die Tür und sagte, er gebe mir die Unterlagen nur für einen Kuss. Diese frühe Grenzverletzung war nur der Auftakt zu einem Muster, das mich durch meine gesamte berufliche Laufbahn begleiten sollte.
Erpressung und Mobbing
In meinem ersten Lehrbetrieb wurde ich unbeabsichtigt Zeugin einer Affäre meines verheirateten Vorgesetzten mit einer Kollegin. Die Konsequenz? Ich wurde gemobbt, um mich aus meiner Lehrstelle zu ekeln – da eine direkte Kündigung eines Lehrlings rechtlich schwierig ist.
Warum ich nicht einfach ging? Mit 15 Jahren wohnte ich bereits seit einem Jahr nicht mehr zuhause. Die finanzielle Abhängigkeit war enorm, und genau in solchen Situationen sind besonders junge Frauen* oft gezwungen, Übergriffe zu ertragen, um ihre Existenz zu sichern.
Konsequenzen für die Opfer, nicht für die Täter
Als ich später neben meiner Ausbildung in einem Kino arbeitete, kam ein Filmvorführer, der immer wieder unangebrachte sexistische Kommentare machte, in den Technikraum zu mir. Er begrapschte mich und sagte: “Ich weiß doch, dass du das willst.” Ich löste mich aus seinem Griff und meldete den Vorfall nach Tagen voller Bauchschmerzen dem Theaterleiter.
Das Ergebnis? Er wurde verwarnt und sprach nicht mehr mit mir. Was aber ebenfalls geschah: Er erzählte anderen Kolleg eine andere Version der Geschichte. So wurde ich indirekt bestraft dafür, dass ich mich verteidigte. Eine bittere Lektion darüber, wie Machtstrukturen funktionieren und wie die Dynamik des Schweigens aufrechterhalten wird.
“Freiwillige” Angebote und versteckte Drohungen
In einer späteren Agentur flüsterte mir mein zukünftiger Vorgesetzter noch vor meinem offiziellen Arbeitsbeginn während einer Weihnachtsfeier ins Ohr: “Meine Frau weiß von meinen Affären, du kannst meine nächste sein, wenn du willst.”
Am liebsten hätte ich den Job sofort aufgegeben. Aber ich hatte es satt, mich von diesen Männern einschüchtern und belästigen zu lassen. Ich wollte mich nicht von meinem beruflichen Weg abbringen lassen. Also trat ich zwei Wochen später meine Stelle an und versuchte, ihm wo es ging aus dem Weg zu gehen.
Als ich für ein Wettbüro als Freelancerin Interface Design machte, musste ich mit einigen Technikern eng zusammenarbeiten. Einer davon erzählte mir, dass er Hobbyfotograf sei und “immer mal wieder Fotomodels sucht”. Als ich höflich ablehnte, blieb er hartnäckig. Auf meine Nachfrage, welche Art von Bildern er denn mache, antwortete er ungeniert: “Aktfotografie”. Er war sogar so dreist, mich mitten in der Teeküche zu fragen, ob ich für ihn nackt posieren würde. Darauf hin versuchte ich für diesen Kunden so viel wie möglich von zu Hause zu arbeiten.
Selbstständigkeit: Kein Schutz vor Übergriffen
Ich dachte, wenn ich nur noch selbstständig arbeite und im Homeoffice tätig bin, wäre ich vor solchen Erlebnissen gefeit. Doch das Gegenteil war der Fall: Die Situation als Freelancerin stellte sich als noch belastender heraus.
Als junge selbstständige Frau stand ich ständig Männern in Machtpositionen gegenüber – als potenzielle Auftraggeber, als Projektleiter, als Entscheider. Dieses Machtgefälle wurde immer wieder ausgenutzt. Jedes Meeting allein mit einem Mann wurde zu einer Situation, in der ich nur darauf wartete, dass irgendeine Grenze überschritten wird, und ich wieder abwägen musste: Ist es schon “schlimm genug”, um meine Existenz zu gefährden, indem ich den Auftrag riskiere?
Die ständige Abwägung: Existenz oder Würde?
In einer mehrjährigen Zusammenarbeit mit einem großen IT-Unternehmen wechselte ich häufig die Projekte und arbeitete als Expertin an verschiedenen Kundenprojekten. Ich lernte immer wieder neue Kollegen kennen, mit denen ich dann über Wochen oder Monate zusammenarbeitete.
Während vieler Dienstreisen war ich nicht nur damit beschäftigt, mich auf Workshops und Präsentationen vorzubereiten, sondern musste auch darauf achten, nicht allein mit einem Kollegen zum Abendessen zu gehen, bei dem mein Bauchgefühl mich warnte. Bei manchen Männern war es aufgrund unangebrachter Flirtversuche so bedrohlich, dass ich Ausreden erfand, um länger in der Lobby zu bleiben – nur um nicht allein mit ihnen im Fahrstuhl zu sein.
Bei einem Projekt sagte der Solution Architect zu mir: “Nächstes Mal, wenn du zu uns ins Büro kommst, kannst du gern danach bei mir übernachten…” Diese Menschen wissen nicht, was innerlich in einer Person zerbricht, wenn man weiß, man hat jetzt drei Monate enge Zusammenarbeit vor sich, die so startet. Ein Dominoeffekt unangenehmer Situationen und Stress werden so in Gang gesetzt.
Überlebensmechanismen und persönliches Wachstum
Was hat das mit mir gemacht? Ich wurde sehr feinfühlig und hellhörig, wenn es um Menschen, insbesondere Männer, geht – um schnellstmöglich herauszufinden, ob das Gegenüber eine Gefahr darstellt oder nicht. Diese hypervigilante Haltung ist erschöpfend und kostet enorm viel Energie, die eigentlich in die kreative und fachliche Arbeit fließen sollte.
All die Wut, den Zorn und die Enttäuschung habe ich in Energie umgewandelt, die mich die Flucht nach vorn antreten ließ. Über die Jahre wuchs mit meiner fachlichen Reputation auch mein Selbstbewusstsein. Meine Haltung und Ausstrahlung veränderten sich. Ich wurde automatisch “uninteressant” für diese Täter, die es auf unsichere, ruhige Frauen* in schwachen Positionen abgesehen haben.
Privileg der Selbstbestimmung
Irgendwann hatte ich es nicht mehr nötig, mir Übergriffe gefallen zu lassen, um (finanziell) zu überleben. Wenn ich heute merke, dass eine Situation unangemessen ist und mich jemand nicht mit Respekt und auf Augenhöhe behandelt, verlasse ich den Raum, das Gebäude, den Vertrag.
Das ist ein Privileg, das ich mir über Jahre erarbeiten musste – und viele Frauen* befinden sich noch genau dort, wo ich vor einigen Jahren war. Sie fühlen sich oft schambehaftet und allein mit diesen Erlebnissen. Als hätten sie selbst die Übergriffe verursacht und als wäre es peinlich, darüber zu sprechen – als wären sie mitbesudelt worden durch die Taten des Täters.
Der Weg nach vorne
Heute brenne ich dafür, andere Frauen* und Menschen aus marginalisierten Gruppen zu stärken. Ich möchte ihnen helfen, ihr Selbstbewusstsein und ihren Selbstwert aufzubauen, damit sie mit erhobenem Haupt ihren Karriereweg gehen können. Präventive Arbeit kann nur durch Stärkung der Betroffenen und Veränderung der Machtstrukturen gelingen.
Wir müssen das Schweigen brechen. Wir müssen über die systemischen Probleme sprechen, die solche Übergriffe ermöglichen und schützen. Wir müssen sicherstellen, dass die nächste Generation von Frauen* im Berufsleben nicht mehr zwischen ihrer Würde und ihrer wirtschaftlichen Existenz wählen muss.
Was können wir tun?
- Netzwerke bilden: Suche dir Mentor und Verbündete, die dich unterstützen und dir Rückhalt geben.
- Grenzen setzen: Lerne, “Nein” zu sagen und deine Grenzen klar zu kommunizieren.
- Dokumentieren: Halte Übergriffe schriftlich fest – mit Datum, Uhrzeit, Ort und beteiligten Personen.
- Verbündete suchen: Sprich mit vertrauenswürdigen Kolleg über deine Erfahrungen.
- Professionelle Hilfe in Anspruch nehmen: Beratungsstellen können dich rechtlich und psychologisch unterstützen.
- Wirtschaftliche Unabhängigkeit anstreben: Arbeite daran, finanziell unabhängig zu werden, um mehr Handlungsspielraum zu haben.
Jede von uns kann einen Beitrag leisten, um eine Arbeitskultur zu schaffen, in der Respekt und Professionalität selbstverständlich sind. Und jede von uns verdient es, ohne Angst vor Übergriffen arbeiten zu können.
Auf dem Foto bin ich 21 und habe gerade meinen Gewerbeschein gelöst. Eine Mentorin zu der Zeit wäre gut gewesen.
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© Foto: Privat




Ich bewundere deine Offenheit, deine Arbeit und was du aus diesen Erfahrungen machst!
Danke ❤